Der politische Mensch im Dreiländereck - In der Oberlausitz fand das 16. Neiße-Filmfestival statt

    Von F.-B. Habel

     

    Noch stärker als sonst stand das Neiße-Filmfestival (NFF) in diesem Jahr im Zeichen der europäischen Verständigung. Der Standort Großhennersdorf als Zentrum der Aktivitäten mit den benachbarten Städten Zittau, Görlitz und Löbau und Gemeinden wie Mittelherwigsdorf sowie Spielstätten in Tschechien und Polen sah sich 2004 mit der EU-Osterweiterung als europäisches Dreiländereck im Herzen Deutschlands (Herzschmerzen inklusive). Das hatten die Großhennersdorfer Filmenthusiasten vom kleinen Kunstbauerkino zum Anlass genommen, das NFF zu gründen, das nun wesentlich vergrößert zum 16. Mal über die Bühne (resp. Leinwand) ging. Dazu verhalf auch die Landesförderung, zu der die angereiste sächsische Kultusministerin Eva-Maria Stange auch für die Zukunft steht (wenn „richtig“ gewählt wird).

     Im Zeichen des zunehmenden Nationalismus und kurz vor der Europawahl setzte das Festival, dessen Schirmherrschaft der aus Görlitz stammende sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer übernommen hatte, durchaus politische Akzente, die in der Nebenreihe „Homo politicus“ gipfelten.

    Oliver Haffners „Wackersdorf“-Film aus dem Vorjahr hat von seiner Brisanz nichts verloren. Johannes Zeiler spielt mit dem Landrat Hans Schuierer in der Oberpfalz einen einsamen Sozialdemokraten im CSU-Land, der sich in den achtziger Jahren vom Befürworter zum erbitterten Gegner der Errichtung eines angeblich ach so sauberen atomaren Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf wandelt. Schuierer, inzwischen 88, war selbst nach Großhennersdorf gekommen, um von seinen Kämpfen mit Franz Josef Strauß und dessen Vasallen zu berichten. Da er als Landrat die Unterschrift für die WAA verweigerte, wurde ein neues Gesetz, intern „Lex Schuierer“ genannt, erlassen, dass die bayerischen Landräte in ihren Kompetenzen einschränkte – ein Gesetz, das bis heute in Kraft ist.

     Ein anderer Film der Reihe porträtierte die Kaczynski-Zwillinge – Jaroslaw Kaczynski war aber glücklicherweise nicht zur Aufführung erschienen. Seiner nationalistischen Politik ist es zu verdanken, dass die polnischen Spielstätten des NFF nicht mehr so zahlreich sind wie einst. Es werden Berührungsängste unter den Nachbarn aufgebaut. Der französische Dokumentarfilm „Polens mächtige Zwillinge“ von 2007 lieferte mit zahlreichen Zeitzeugen Einblicke, wie sich die Kaczynskis von Katholiken zu Antikommunisten und Nationalisten wandelten. Ausschnitte aus dem Kinderfilm „Die zwei Monddiebe“, der auch in DDR-Kinos lief und mit dem die damals zwölfjährigen Lech (er verunglückte 2010) und Jaroslaw Kaczynski zu Publikumslieblingen wurden, lockerten den Interviewfilm auf, in dem auch Lech Walesa, einst Kollege und nun Kritiker der Kaszynskis, zu Wort kam.

     Das durchaus aufschlussreiche Ergebnis eines Workshops von Jugendlichen aus den drei Ländern des NFF ging im allgemeinen Trubel fast unter. Sie waren ganz aktuell in Orten der Region auf die Straße gegangen, fragten unter dem Motto „Wir müssen reden“ ältere Deutsche nach ihrem Verhältnis zu den Nachbarn (ambivalent) und junge Tschechen nach ihrem Interesse für Politik (nicht so interessant wie Rap).

     Die Reihe „Regionalia“ widmete sich nicht nur dem nach wie vor beispielhaften Gemeindeschwestern-System der DDR mit dem Agnes-Kraus-Film „Schwester Agnes“, der 1974 im Zittauer Gebirge gedreht wurde, sondern auch Regionen der Nachbarländer. Regisseurin Rena Dumont konnte für ihren Film „Hans im Pech“, ein deutsch-böhmisches Roadmovie, das Vorurteile abbaut, den Spezialpreis des Festivals entgegennehmen. Die 70mm-Filmretrospektive im tschechischen Varnsdorf musste in diesem Jahr ohne DEFA-Beispiel auskommen, weil der angefragte Thorndike-Film „Du bist min“ (1969) noch auf die technische Restaurierung wartet.

     Ein Dialog aus dem Hauptpreisträgerfilm: „Worauf wartest du?“ „Ich warte auf das Ende des Kapitalismus.“ „Da warte ich mit!“ Susanne Heinrichs ebenso stilbewusster wie in Teilen grotesker Film „Das melancholische Mädchen“ wurde im Januar schon beim Max Ophüls Preis dreimal ausgezeichnet, nun erneut beim NFF-Abschluss im polnischen Zgorzelec, der Nachbarstadt von Görlitz. „Humorvoll zielt die Regisseurin dieses bezaubernden wie klugen Films auf die Paradoxe unserer modernen Welt. Sie zeigt uns in locker und leichtem Ton und unter Verwendung sämtlicher feministischer Theorien, wie konservativ und unfrei wir sind in unseren Käfigen aus Konventionen“, stellte der Schauspieler, Autor und Regisseur Thomas Wendrich als Sprecher der internationalen Jury fest.

     Zwei Preise, nämlich für bestes Drehbuch und Szenenbild, erhielt der polnisch-tschechisch-schwedische Streifen „Flucht“, das ambitioniert inszenierte Psychogramm einer Ehefrau und Mutter, die nach einem geheimnisumwitterten Gedächtnisverlust nach zwei Jahren in die Familie zurückkehrt. Jacek Braciak wurde für seine differenzierte Vaterrolle in dem polnischen Film „Die Tochter des Trainers“ als bester Darsteller geehrt.

     Der Ehrenpreis des Festivals ging erstmalig an einen Schauspieler. Der Pole Jan Nowicki, Star in Filmen von Wajda, Zanussi und Márta Mészaros, hatte bei der DEFA „Ich liebe dich – April! April!“ gedreht, und Regisseurin Iris Gusner hob in ihrer Laudatio für den leider Abwesenden seine Menschenfreundlichkeit und Güte als „Resonanzboden seiner Arbeit“ hervor.

     Auch der einstige DEFA-Regisseur Andreas Voigt war an die Neiße gekommen und stellte seinen 25 Jahre alten und erstaunlich aktuellen Film „Glaube, Liebe, Hoffnung“ vor, in dem er Agonie, Zerfall und Existenzkampf zu Wendezeiten in Leipzig schildert. Die Entwicklung, die heute nach rechts driftet, ist hier schon angelegt. Zittau ist übrigens eine Stadt, in der die AfD nicht im Stadtrat vertreten ist. Für die kommende Wahl (in Stadt und Freistaat) kann nur gehofft werden, dass sich Menschenfreundlichkeit und Nachdenken als Ergebnis des gut besuchten Festivals einstellt.

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