Leben und Kunst, und umgekehrt: Festival des osteuropäischen Films in Cottbus

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Von Axel Kaspar

Wer etwas oder mehr über Osteuropa erfahren will, muss nicht bis zum Ural oder ans östliche Mittelmeer fahren. Mein Reisetipp: Cottbus - das Festival des osteuropäischen Films.

2018 fand das 28. statt, ich war zum zehnten Mal als Zuschauer dabei. Gezeigt wurden 217 Filme aus 45 (Ko-) Produktionsländer in den Wettbewerben Spielfilm, Kurzspielfilm, U18 Jugendfilm und Spectrum sowie in elf weiteren Sektionen. Allein schon die Titel dieser Sektionen dokumentieren die interessante Vielfalt des Festivalprogramms - SPOTLIGHT: GEORGIA / CLOSE UP UA (Ukraine) / FREUND ALS FEIND (Thema: Bespitzelung und Verrat) / REGIO: SILESIA (Oberschlesien) / RUSSKIY DEN / POLSKIE HORYZONTY.

Diese „Nebenreihen“ wurden von der Cottbuser Bevölkerung ebenso begeistert aufgenommen wie die Wettbewerbsfilme. 22.000 Besucher (darunter 500 akkreditierte Fachgäste) stellten einen neuen Zuschauerrekord auf. Fünfzehn der 217 Filme habe ich gesehen, drei davon bewegen mich bis heute besonders. Tief erschüttert und mit Wut im Bauch habe ich Anfang November oft das Kino verlassen.

Erschüttert über das unfassbare Leid, das vor allem die Filmheldinnen aushalten müssen und ungeheure Wut auf die, die wegen Traditionen oder aus Geldgier skrupellos Leid antun oder dulden. Bester Beleg dafür der russische Film „Ayka“, Gewinner des Hauptpreises für den besten Film. Regie: Sergey Dvortsevoy. Die junge Frau Ayka aus Kirgisen lebt illegal in Moskau. Sie braucht dringend Geld um zu überleben und weil sie von Banditen erpresst wird, sie drohen ihren illegalen Aufenthalt zu verraten. Also nimmt sie auch die schlimmste Arbeit unter unwürdigsten Bedingungen an. Dann wird sie schwanger, bekommt plötzlich ungeheure Schmerzen, schafft es dank einer einzigen gütigen Ärztin gerade so ins Krankenhaus. Nach der Entbindung reißt sie aus, ohne Kind - die Banditen wollen weiter Geld. Mit Fieber, für die eisige Kälte viel zu dünn bekleidet sucht sie wieder Arbeit, Blut läuft an ihren Beinen herab. Dann holt sie ihr Baby heimlich aus dem Krankenhaus, steht tränenüberströmt in einer Hauseinfahrt, presst ihr Kind an sich und weiß, sie muss es zur Adaption freigeben, ihre Erpresser wollen es zu Geld machen. Samal Yeslyamova spielt das Leben - nein: das Leid der Ayka so intensiv, dass ich mich ob meiner Tränen nicht geschämt habe.

Den „Preis für eine herausragende Darstellerin“ hat sie aber nicht erhalten, den hatte sie dafür schon in Cannes bekommen und auch deshalb nicht, weil es noch starke Konkurrentinnen in anderen Filmen gab.

Zum Beispiel Zharnargul Zhanyamanova, Hauptdarstellerin in dem kasachischen Film „Otvergnutyte“ („Abgelehnt“). Alganym, so heißt sie im Film, verließ einst ihr Dorf, um in der Stadt zu studieren. Nach dem Studium kommt sie mit einem unehelichen Kind zurück, ihr kleiner Timur soll eine Familie haben. Zuerst kommt die Oma an den Gartenzaun und beschimpft ihre Tochter als Hure, dann der Bruder und verprügelt seine Schwester. Trotzdem kehrt sie wieder an den Zaun zurück, bittet wieder um Verzeihung, wird wieder verprügelt – bis sie tot ist.

Aber auch die Kasachin wurde nicht als beste Darstellerin geehrt, sondern Martina Apostolova aus Bulgarien. Sie spielt in dem Film „Irina“ die gleichnamige Hauptfigur. Eine junge Mutter, die in der Provinz ums Überleben ihrer Familie kämpft, ist bereit gegen gute Bezahlung Leihmutter zu werden. Der Film stellt nicht nur ethische Fragen zur Leihmutterschaft, sondern – wie die vorher genannten - zugleich zum moralischen Zustand des Landes.

Nicht nur die drei genannten Filme zeichnen sich durch die Brisanz ihrer Geschichten, ihren hervorragenden SchauspielerInnen und ihrem dokumentarischen Ansatz aus. Dadurch überschreiten sie immer wieder die Grenze zwischen Fantasie und Realität und entfalten so eine mitreißende Wucht durch die der Zuschauer immer wieder vergisst, dass sie alle „nur“ Kino sind.

Osteuropa – Verzeihung: das Cottbuser Festival ist immer eine Reise wert. Das Festival ist seinem Ruf, die führende Plattform des osteuropäischen Films zu sein, erneut gerecht geworden.