Tipografic majuscul (Uppercase Print) von Radu Jude - Filmkritik von der Berlinale

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Von Sven Angene

Tipografic majuscul (Uppercase Print) von Radu Jude ist ein Zitat von Michel Foucault vorangestellt. In diesem beschreibt er die Rigorosität, mit dem die komplexe Realität einer Zeit in Akten kondensiert und reduziert wird, und den Gewaltakt, den die Wissenschaft vornehmen muss, wenn sie sich dieser Zeit über die Akten nähert. Damit ist das Programm dieses Dokumentarfilms bereits auf den Punkt gebracht: Über die zwei Stunden Laufzeit hinweg verarbeitet Radu Jude kompromisslos zwei unterschiedlichen Formen von „Akten“, um einen kleinen Teil der Realität des sowjetischen Rumäniens zu extrahieren. Dabei handelt es sich einerseits um Unterlagen der Geheimpolizei, und andererseits – um den ganzen Kram, der im rumänischen Staatsfernsehen so lief. Und miteinander verschaltet bieten diese grundverschiedenen Archive den Schlüssel, sich gegenseitig zu verstehen. Das ist anspruchsvoll, vielleicht sogar bisweilen ein bisschen zäh, aber es funktioniert so gut, dass ich nicht umhinkann, hier eine kleine kulturwissenschaftliche Schwärmerei anzustimmen. Ihr seid gewarnt.

Im Jahr 1981 schmiert der 15-jährige Schüler Mugur Calinescu (Serban Lazarovici) mit Kreide ein paar aufrührerische Parolen an Hauswände seiner Heimatstadt: „Wir wollen Freiheit und richtige Gewerkschaften, wie sie in Polen welche haben!“, so in der Art. Das ruft die rumänische Geheimpolizei Securitate auf den Plan, die Mugur aufspüren, festsetzen, seine Familie abhören und ihn einem Disziplinarverfahren unterziehen, um herauszufinden, was ihn zu einem Staatsfeind gemacht habe. Die Polizei-Akten dieses Falles hat die Theaterregisseurin Gianina Carbunariu zu einem Theaterstück entwickelt, welches hier von Radu Jude für die Kamera inszeniert wird und die eine Hälfte des Films bildet: Stand-Ins für Polizei-Offiziere, Mitarbeiter des Geheimdienstes, Schüler, die Eltern und Mugur blicken in die Kamera und geben die teils aufgewühlten Texte aus den Akten komplett emotionslos wieder. Diese „Bestandsaufnahme“ des konkreten Falles wird immer wieder unterbrochen durch Archivmaterial des Staatfernsehens: Eben noch im Verhörsaal, sehen wir nun tanzende Schulkinder, die einen Heidenspaß in ihren traditionellen Outfits haben, eine Talk Show, in der Beziehungstipps gegeben werden, und Volksmusik – So. Viel. Volksmusik.

Zunächst wirkt das wie eine Auflockerung, wie humoristische Einschübe, die den nebenherlaufenden Prozess karikieren – und sie sind auch ziemlich witzig. In ihrem Dilettantismus und ihrer übertrieben zur Schau gestellten Naivität und heilen Welt bieten sie sich perfekt an, mit dem Finger auf sie zu zeigen und herzlich über das trashige Fernsehen zu lachen. Bis zu den Ausschnitten aus einer Show, in der hupende Autofahrer von der Polizei angehalten und halb im Scherz, halb ernsthaft mit dem neu eingeführten Hupverbot konfrontiert werden. Spätestens hier wird der Normierungsdruck klar, der von diesen vermeintlich harmlosen Unterhaltungssendungen ausgeht. Während die Fernsehbilder so ihre Unschuld verlieren, spitzen sich die Untersuchungen gegen Mugur Calinescu weiter zu: Ob er Gehilfen hatte, ob Lehrkräfte ihn indoktriniert hätten oder doch nur der Radiosender Freies Europa, und ob man diesen Angriff auf das rumänische Volk hart oder milde bestrafen solle. Mugur bleibt dabei seiner Familie, seinen Freunden und der Staatsmacht gegenüber widerständig und hält an seinen regimekritischen Ansichten fest. Zwischen die Volksmusik mischen sich mittlerweile Reportagen zum Faschismus, der im Westen wieder erstarkt, und der Gefahr, die er für das Vaterland darstellt. Nun wird klar: Die Fernseh-Aufnahmen sind nicht nur Propaganda-Werkzeuge oder Repräsentation eines korrupten Systems, sie sind nicht nur Inszenierungen eines überhöhten Ideals, das sich in der Wirklichkeit nicht wiederfindet: sie produzieren aktiv das Weltbild mit, das die Verfolgung Mugurs erst ermöglicht. Die Securitate und die Volksmusik sind direkt miteinander verflochten, beide folgen den gleichen Dispositiven und sind deren Materialisierungen. So gibt Uppercase Print nicht nur einer tragischen Widerstandsgeschichte eine Stimme, es unterzieht das Medium Fernsehen einer radikalen Kritik und entlarvt es nicht nur als Beihelfer, sondern als direkte Manifestation und konstituierenden Teil des repressiven Systems.

Das alles gelingt Radu Jude ohne ein Wort Kommentar aus dem Off. Das braucht es auch gar nicht, denn der von Foucault beschriebene Gewaltakt liegt hier in der Montage: Indem er das Archivmaterial und das Stück gegenüberstellt und beides gegeneinander ausspielt, zwingt er die Bilder wie die Akten selbst zum Sprechen. Das braucht natürlich Zeit: nur ein Lied über die rumänische Ernte ist noch unverdächtig. Erst im Geflecht dutzender sich überlagernder Sendungen und in deren Juxtaposition mit den repressiven Maßnahmen der Geheimpolizei kann das Stück Realität zum Vorschein kommen, das im Archiv komprimiert worden ist. Dieses Stück Realität sagt übrigens nicht nur etwas über die Vergangenheit Rumäniens aus, wie spätestens mit den aktuellen Aufnahmen aus Bukarest klar wird, mit denen Radu Jude seinen eindrucksvollen, klugen und über weite Strecken trotz all des Anspruchs sehr unterhaltsamen Dokumentarfilm enden lässt.

Grüße gehen raus an den Axel-Springer-Verlag und alle anderen Vertreter*innen der Hufeisen-„Theorie“.

 

Diese Kritik erschien ursprünglich bei 4 Kinder und Ein Feldbett.